ÖPNV Beschleunigung – Next Generation
Einführung in das System
Die Beschleunigung des Öffentlichen Personennahverkehrs an einem signalisierten Knotenpunkt wird in Deutschland – und im übrigen auch auf vielen weiteren Teilen dieser Welt- ganz oft dadurch ermöglicht, dass das sich nähernde Fahrzeug (Bus oder Bahn) durch ein im 2m Band analog ausgesendetes R09.16 Datentelegramm sich der verkehrsabhängigen Steuerung angekündigt. Oft werden auch Varianten des Telegrammes nach R09.14 oder R09.18 verwendet, wobei der Dreiklang Voranmeldung, Hauptanmeldung und Abmeldung bestehen bleibt. Auch der eben genannte Dreiklang hat Variationen, das Prinzip bleibt aber immer gleich.
Auch wenn die hier genannte Technik als etabliert, robust und wohleingeführt gilt, gibt es doch zu mindestens von technischer Seite her die Notwendigkeit, sich langsam nach Alternativen umzusehen, wenn in Zukunft das Prinzip der ÖPNV-Beschleunigung an verkehrsabhängig gesteuerten Lichtsignalanlagen beibehalten und vielleicht sogar noch weiter ausgebaut werden soll. Auf der einen Seite gibt es mittlerweile erhebliche Probleme bei der Beschaffung der Geräte, da der Analogfunk mittlerweile als veraltet gilt. Zum anderen ist das Gewusst Wie immer seltener vorhanden, diese Technologie zu betreuen und zu beherrschen und auch die Bereitschaft, sich in eine als veraltete und kaum noch eingesetzte Gerätegattung einzuarbeiten, wird immer seltener.
Die Umstellung auf eine neue Anforderungsform wird mit Sicherheit einige Jahre in Anspruch nehmen. Somit wird es allerhöchste Zeit, sich um die ÖPNV Beschleunigung – Next Generation zu kümmern. In Kassel ist seit einiger Zeit bei Teilen der Verkehrsbetriebe und an einigen Knotenpunkten ein neues Anforderungssystem im Einsatz, was hier im Folgenden beschrieben werden soll. Es entstand aus den Entwicklungen des Projektes VERONIKA (Vernetztes Fahren des öffentlichen Nahverkehrs in Kassel, Förderkennzeichen 16AVF1016A Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur), die zu Komponenten für den Produktiveinsatz weiterentwickelt wurden.
Hürden bei der Umstellung
Ist der erforderliche Wille zur Umstellung auf eine neue Technologie bei allen beteiligten Akteuren vorhanden, sind immer noch einige Hürden im Weg, die man zu mindestens kennen sollte, um eine Strategie zu entwerfen, sie aus dem Weg zu räumen. In unserem Fall ist vermutlich eine der wesentlichen Hindernisse für eine Umstellung, neben der Tatsache, dass wir nicht auf einer ‚grünen Wiese agieren können und eine Vorgängertechnologie ablösen müssen, dass es im wesentlichen zwei unterschiedliche Parteien gibt, die sich einigen müssen. Auf der ortsfesten Seite mit der Zuständigkeit für die Lichtsignalanlagen sind in der Regel die Kommunen oder der Straßenbaulastträger verantwortlich. Auf der Fahrzeugseite ist es der Verkehrsbetriebe – oder, was das Problem noch etwas größer macht, in der Regel mehrere Verkehrsbetriebe, die für die Fahrzeugausrüstung zuständig sind. Beide Parteien müssen gleichzeitig umrüsten (wollen) oder zu mindestens die Umrüstung synchronisieren. Da auf keiner Seite eine Umrüstung über Nacht stattfinden kann, sondern es sich hier um einen mehrmonatigen, wenn nicht sogar mehrjährigen Prozess handelt, gibt es erheblichen Abstimmungsbedarf.
Bedingt durch die längere Umrüstungsdauer, die vermutlich mit einem Parallelbetrieb von alter und neuer Technik einhergeht, ist ein detailliertes Migrationskonzept sinnvoll und notwendig.
Vorschlag für eine zukünftige Technologie
Im Bereich der Personenkraftwagen etabliert sich gerade eine Kommunikationstechnologie, die unter der Abkürzung Fahrzeug zu Fahrzeugkommunikation (V2V) bzw. Fahrzeug zu Infrastrukturkommunikation (V2I) bzw. Fahrzeug zu Everything Kommunikation (V2X) bekannt wird. Sie wird entwickelt, damit in Zukunft Fahrzeuge in bestimmten (Gefahren-) Situationen mit anderen Fahrzeugen Nachrichten austauschen können oder aber auch Fahrzeuge Nachrichten mit Infrastruktureinrichtungen austauschen können, den sog. Kooperativen Systemen (C-ITS). Der Austausch findet mittels IEEE 802.11p Funk statt. Eine wesentliche Infrastruktureinrichtung wird in Zukunft die Lichtsignalanlage sein. Somit ist es naheliegend, diesen Nachrichtenaustauch auch dazu zu nutzen, ein sich näherndes ÖV-Fahrzeug der Steuerung bekannt zu machen. Damit wäre auch schon ein nicht unwesentlicher Vorteil aufgezeigt. Bisher musste für das Datentelegramm im 2m Band ein eigener (ÖV-) Empfänger installiert werden, dessen einzige Aufgabe es war, die Datentelegramme nach R09.1x zu empfangen und an das Steuergerät weiterzuleiten, damit dort das sich nähernde ÖV-Fahrzeug bevorzugt in der Steuerung behandelt werden konnte.
Paradigmenwechsel
Bei der Etablierung des neuen Anforderungssystems in Kassel wurde aber nicht nur die ‚alte‘ Anforderungslogik mittels VDV R09.16 Datentelegrammen in ein neues Übertragungsverfahren eingepackt. Es wurde auch gleich die Chance genutzt, ein paar Verbesserungen einzuführen, die sich die Beteiligten schon immer gewünscht haben, die aber durch die technische Begrenzung in der Regel nicht möglich war.
Bei der bisherigen Anmeldung wird durch einen systemweit eindeutigen Meldepunktnummer eine Ortsinformation vom Fahrzeug an die Steuerung übertragen. Es war dann die Aufgabe des Erstellers der verkehrsabhängigen Steuerung eine Fahrzeit zu hinterlegen, wann nach dem Aussenden der Meldepunktnummer das Fahrzeug letztendlich an der Haltelinie ankommt. Diese Zeit stand der Steuerung zur Verfügung, um der zuständigen Signalgruppe eine Freigabe zu erteilen, damit das Fahrzeug ohne Halt die Signalanlage passieren konnte. Somit ist nicht eine Ortsangabe für die Steuerung relevant, sondern sie benötigt eine Restfahrzeit bzw. eine Ankunftszeit. Ändert sich der Ort der Aussendung der Meldepunktnummer (wird vom Verkehrsbetrieb versorgt), muss auch die hinterlegte Restfahrzeit mitgezogen werden (wird von dem Betreiber der Lichtsignalanlage realisiert). Diese enge Abstimmung im Änderungsmanagement funktioniert nicht in jedem Fall und immer reibungslos. Fordern mehrere unterschiedliche Fahrzeuge mit der gleichen Meldepunktnummer eine Freigabe an, wollen aber in unterschiedlichen Richtungen die Lichtsignalanlagen verlassen, weil z.B. das eine Fahrzeug geradeaus fährt und das andere Fahrzeug links abbiegt, sind weitere Informationen zur Differenzierung notwendig. Dies wurde in der Regel mit Hilfe der Linien oder Zielnummer realisiert, die ebenfalls mitgeschickt wurde. Auch hier ist eine sehr sorgfältige Redaktion notwendig, wenn sich Linien- oder Streckenführungen ändern.
Insbesondere das Nachführen bei Änderungen erfolgt oft entweder zu spät oder gar nicht oder es werden die Informationen nicht richtig ausgetauscht. So müssen zum Beispiel in Kassel ca. 140 und 160 Signalanlagen immer auf dem aktuellen Stand gehalten werden, was mitunter nicht ganz einfach ist.
Wie sieht die ÖPNV Beschleunigung – Next Generation aus?
Die neue Anforderungssystematik macht es sich zu nutze, dass auf dem Fahrzeug die Information vorhanden ist, welchen Streckenverlauf bei der momentan eingestellten Linie mit der aktuellen Fahrt zu nehmen ist. In der Annäherung an die Lichtsignalanlage wird durch die ortsseitig installierte Road Side Unit (RSU), die Teil des neuen V2X Infrastruktursystems als C-ITS Komponente verbaut ist, die georeferenzierte Knotenpunkts Geometrie ausgestrahlt und vom Fahrzeug empfangen. Dies geschieht über die im ETSI-Standard festgelegte MAP-Nachricht. Nun kann ein Algorithmus im Fahrzeug ermitteln, welche Signalgruppe an der nächsten Lichtsignalanlage angefordert werden muss. Es wird neben der anzufordernden Signalgruppe auch noch aufgrund der Ortsinformation die restliche Fahrzeit errechnet. Beide Informationen werden über die standardisierte Nachricht mittels Signal Request Message an die Steuerung geschickt.
Damit wird bei der neuen Anforderungssystematik nicht wie bei dem bisherigen Datentelegramm eine Ortsinformation und Liniennummer übermittelt, was in der Steuerung mittels mehr oder weniger gut gepflegten Tabellen in eine Restfahrzeit und eine zuständige Signalgruppe umgeschlüsselt werden musste. Sondern es wird gleich die Fahrzeit und die gewünschte Signalgruppe übertragen. Das Fahrzeug kann auch auf dem Weg zur Lichtsignalanlage über den gleichen Mechanismus Updates zur prognostizierten Ankunftszeit senden. Dies ist z.B. bei Haltestellenaufenthalten vor der Lichtsignalanlage oder bei Störungen auf der Strecke sinnvoll. Ändern sich Streckenführungen des ÖV-Fahrzeuges oder ändern sich Signalgruppen, dann wird dies automatisch vom Algorithmus erkannt und die jeweils richtige Werte für Restfahrzeit und anzufordernde Signalgruppe errechnet.
Als Neuerung und echter Mehrwert für die Fahrerinnen und Fahrer ist der installierte Rückkanal von der Steuerung ins Fahrzeug anzusehen. Es kann über die standardisierte Nachricht Signal Status Message die Detektion eines bestimmten Fahrzeuges bestätigt werden. Somit kann direkt ein Feedback gegeben werden, ob die ÖV-Anmeldung auch bei der Steuerung angekommen ist und dort verarbeitet wird. Zusätzlich wird noch an das Fahrzeug rückübermittelt, wann die angeforderte Signalgruppe ihre Freigabe erhält und wie lange die Freigabe andauert. Mit dieser Information kann die optimale Fahrgeschwindigkeit für effizientes und komfortables Fahren gewählt werden. Wir sprechen hier von der GLOSA Funktion (Green Light Optimal Speed Advisory). Ob der Rückkanal immer genutzt wird oder bei kosteneffizienten Fahrzeugausrüstungen als optional angesehen wird, muss natürlich von Situation zu Situation entschieden werden.
Erstes Fazit
Eine robuste, gut funktionierende Technik im laufenden Betrieb mit tausenden von Installationen abzulösen, ist eine große Aufgabe. Neben den technischen und organisatorischen Herausforderungen stellt die Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel für die Um- bzw. Nachrüstung ein Problem dar. Es müssen sowohl auf der ortsfesten Seite (Lichtsignalanlagen) neben der Sende- und Empfangsinfrastruktur auch einige Softwareanpassungen realisiert werden. Die Verkehrsbetriebe müssen in gleicher Weise nachziehen. Allerdings stehen die Zeichen auf Aufbruch in die nächste Generation: Es ist eine Neuordnung der Frequenzen im 2m Band von der Bundesnetzagentur angekündigt worden. Die Gerätebeschaffung für die alte Technologie ist sehr schwierig, teilweise unmöglich geworden, der Gerätebestand wird mitunter mit viel Aufwand am Leben gehalten. Die Werkstatttechniker, die sich mit Analogfunk auskennen, werden weniger, die jüngere Generation will es oft als Wissen, was woanders nicht mehr gebraucht wird, nicht mehr lernen. Die eigene Empfangsinfrastruktur, die nur für die ÖPNV-Fahrzeuge da ist, ist für den Betreiber der Lichtsignalanlagen auf Dauer nicht mehr leistbar. Der momentane hohe Versorgungs- und Pflegeaufwand der Anforderungsdaten ist nicht mehr zeitgemäß. Die modernen Softwaretools und die großen Datenbestände bei den Verkehrsbetrieben sind dazu geeignet, dass sich die Technik auf dem Fahrzeug selbst die notwendigen Daten erschließt, um die richtigen Datentelegramme an die verkehrsabhängige Steuerung zu schicken. In Zukunft kann mit Hilfe von Big Data und Künstlicher Intelligenz eine viel genauere An- und Abmeldung bei den verkehrsabhängigen Steuerungen geschehen, die dazu beiträgt, präzisere Steuerungseingriffe zu realisieren. Damit kann die Leistungsfähigkeit insgesamt der Steuerung erhöht werden.
Im zweiten Teil der Artikelreihe soll auf einige Spezialitäten näher eingegangen werden. Es wird der realisierte Migrationspfad von bisheriger Technik zu der modernen Technik beschrieben, der ohne Betriebsunterbrechung funktioniert. Die Möglichkeiten der zentralen und dezentralen Anmeldung von Fahrzeugen wird näher beleuchtet und es wird auf Lösungen eingegangen, die etabliert wurden, um die etwas geringere Reichweite der Funktelegramme im hohen Frequenzbereich zu kompensieren.
Teil 2: Coming soon!
Kontakt
s.a.d Systemanalyse und -Design GmbH
Dipl.-Ing. Markus Mahler
Große Rosenstraße 21
34117 Kassel
Mail: verkehrstelematik@sad-net.de
Tel: +49 561 31 67 95 11
Links
GLOSA (gültig 2020): https://www.c-roads-germany.de/deutsch/c-its-dienste-1/glosa/